Pflegeheime in der Pandemie

18.02.2022

Villigst fragt nach

„Zwar wirkt die mittlerweile schon im zweiten Jahr andauernde Pandemie wie ein Brennglas, unter dem viele – viel zu viele! – Unzulänglichkeiten der bestehenden Versorgung von Pflegebedürftigen überdeutlich werden.“ (Pflege-Report 2021) Doch die Verschärfungen und dramatischen Zuspitzungen, die seit März 2020 auf Menschen im Pflegesektor zugekommen sind, werden noch immer nicht ausreichend wahrgenommen. Schon jetzt, nach nicht ganz zwei Jahren, hat sich der Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit wieder weg bewegt von den in der Pandemie seit März 2020 auf mehreren Ebenen schwer getroffenen Pflegeeinrichtungen. Umso erfreulicher war es, dass sich mehr als 30 Menschen an dem ersten „Villigst fragt nach…“ im Januar 2022 zum Thema Pflegeheime in der Pandemie beteiligt haben.

223603 Villigst fragt nach Pflegeheime

Als Referenten und Gesprächspartner waren Christian Hering und Annabell Gangnus vom Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft der Charité eingeladen, die sehr engagiert und kenntnisreich von ihren Forschungsarbeiten im Rahmen des großen Projektes „COVID-Heim“ berichteten. Die beiden jungen Forscher sind daran mit eigenen Teil-Projekten beteiligt, die sich den brennenden Fragen widmen, die sich – nicht erst seit Corona, seitdem aber in besonders hohem Maße – in dem Bereich der Alten- und Pflegeeinrichtungen stellen und doch nur sehr selten die allgemeine Aufmerksamkeit gewinnen, die sie eigentlich benötigten. Im Rahmen dieses Forschungsprojektes haben die Wissenschaftler:innen unter der Leitung der renommierten Gerontologen und Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Adelheid Kuhlmey und Prof. Dr. Paul Gellert Pflegepersonal und Bewohner:innen, Angehörige und Heimleitungen befragt, Verordnungen analysiert, Statistiken erstellt und ausgewertet und Todesursachen ermittelt.

Maßnahmen ein großes Problem

Im Zentrum unseres Diskussionsabends standen die betroffenen Menschen: das hoch belastete Pflegepersonal und die Bewohner:innen, die nicht nur unter dem Virus, sondern in einem erschreckenden Ausmaß auch unter den Pandemie-Maßnahmen gelitten haben.

Sehr eindringlich stellte Christian Hering dar, in welchem Ausmaß die Menschen, die in den Pflegereinrichtungen arbeiten, unter der noch einmal extrem gesteigerten Arbeitslast bis heute leiden, wie sehr sie viele Ängste, gerade auch um die ihnen anvertrauten Menschen, belasten, und, eine besonders alarmierende Erkenntnis, dass ein erheblicher Teil von ihnen eigentlich längst deswegen psychosoziale Unterstützung benötigt. Ihre Belastung war der Studie zufolge ungleich höher als die der sehr viel mehr im öffentlichen Fokus stehenden, gleichfalls belasteten Pflegekräfte im Krankenhaus und wurde dadurch verstärkt, dass es kaum gesellschaftliches Interesse an ihrer Situation gab und gibt. Im Gespräch der Teilnehmer:innen miteinander und mit den Referenten zeigte sich, dass diese hohe Belastung auch im alltäglichen Kontakt von Seelsorger:innen, Angehörigen oder Ärzten wahrgenommen wird.

 

Schuldfrage und Soziale Teilhabe

Eine große Rolle spielt dabei auch, das wurde im Verlauf der Diskussion deutlich, die große Sorge der Beschäftigten in Heimen, schuldig zu werden an Krankheit und Tod der dort betreuten Menschen. Eine Sorge, die letztlich in dem Mangel wurzelt, unter dem die Einrichtungen schon seit langem leiden, und der die Verantwortung unzulässig verschiebt: weg von der Gesellschaft als ganzer hin zu den Menschen, die einen schweren und unverzichtbaren Dienst oftmals mit großem Einsatz und Herzblut unter prekären Bedingungen leisten.

Annabell Gangnus hat sich der Frage gewidmet, wie viel soziale Teilhabe den Bewohner:innen unter den Pandemie-Maßnahmen möglich war. Dabei hat sie akribisch ermittelt, welche Art Veranstaltungen wie sehr betroffen waren und wie sich dies auf die Menschen ausgewirkt hat. Wenig überraschend waren alle Arten von Gemeinschaftsveranstaltungen wie gemeinsames Singen, Turnen, Lese- und Spielenachmittage, Ausflüge etc. besonders restriktiven Einschränkungen unterworfen. Bis heute darf ein großer Teil von ihnen nicht stattfinden, auch Gottesdienste waren eine Zeitlang völlig ausgesetzt worden, was viele Bewohner:innen besonders beklagt haben. Die Vorschriften zur Kontaktverminderung zwischen Pflegepersonal und zu Pflegenden habe naturgemäß auch viele weitere Aktionen und Veranstaltungsformen unmöglich gemacht oder so stark eingeschränkt, dass sie faktisch nicht stattfinden konnten.

Auch wenn die extremen Maßnahmen aus dem ersten Lockdown, unter denen die Bewohner:innen in Pflegeheimen letztlich eingesperrt und teils für lange Zeit auf ihren Zimmern isoliert wurden, später nicht mehr eingesetzt worden sind (in 98,3 % der Einrichtungen galten im ersten Lockdown strikte Besuchsverbote!), finden sich bis heute erhebliche Reglementierungen für Besuche, Ausflüge und gemeinsame Veranstaltungen.

Die Kritik der Forscherin richtet sich dabei nicht nur darauf, dass das moralische Recht auf soziale Teilhabe außer Kraft gesetzt worden ist, sondern auch darauf, dass nicht bedacht wurde, welche teils dramatischen Folgen daraus für die seelische, aber auch die körperliche Gesundheit der betroffenen Menschen entstehen würden. So haben viele von ihnen sehr stark unter der Einsamkeit gelitten, die kognitiven Fähigkeiten sind teils merklich zurückgegangen, bis dahin, dass Familienmitglieder später nicht mehr erkannt wurden, die Mobilität hat sich vermindert, innerer Rückzug, Gefühle von Sinnlosigkeit und Teilnahmslosigkeit sind Begleiterscheinungen der gerade zu Anfang drakonischen Schutzmaßnahmen. „Ich fühle mich hohl“, ist eine von den erschütternden Äußerungen, die in den Interviews gemacht worden sind. Die ernüchternde Bilanz nach der inzwischen 4. Welle lautet, dass sich trotz mancher Verbesserungen nach wie vor vieles nicht wesentlich für die Pflegeheimbewohner:innen geändert hat.

Im Gespräch der Teilnehmer:innen kamen hier interessante Fragen auf, die zentrale Aspekte des politischen und gesellschaftlichen Umgangs mit der Herausforderung der Pandemie betreffen. So wurde etwa kritisch gefragt, wovor die Menschen in den Einrichtungen geschützt worden sind, wenn daraus so erhebliche gesundheitliche Einschränkungen resultieren. Die Einstellung der Gesellschaft zu Krankheit, Sterben und Tod wurde hinterfragt und der fehlenden Einbezug der Bewohner:innen in die Diskussion und Umsetzung von Maßnahmen bemängelt.

Positiver Ausblick

Erfreuliches hatte jedoch Annabell Gangnus auch zu berichten, was dann von den Teilnehmenden durch eigene Erfahrungen ergänzt wurde. So haben die Einrichtungen nach der ersten Welle sehr viele große Anstrengungen unternommen, um auch unter strengen Pandemie-Maßnahmen den Bewohner:innen Angebote zu Kontakten mit Angehörigen, zur Freizeitgestaltung und zur Kompensation der vielen ausfallenden Gruppenveranstaltungen anzubieten. Dabei wurden viele Heime ausgesprochen kreativ, richteten Besuchszonen in Gärten ein, besorgten „Besuchspavillons“, Tablets u.a.m. Briefpartnerschaften mit Schulkindern, Kooperationen mit örtlichen Kitas, Terrassengottesdienste und Vorlesen über Lautsprecher sind nur einige der schönen und hilfreichen Ideen, mit denen den Menschen das Leben erleichtert worden ist. Ein Teilnehmer hatte als Musikgeragoge selbst an solchen Angeboten mitgewirkt und allen Mitdiskutanten ein kleines Video davon eingespielt, das sehr eindrücklich vor Augen führte, dass Bewohner:innen durch solche kreativen und sozialen Angebote Lebensfreue zurückgewinnen können.

Dass sich möglichst viele dieser neuen, tollen Ideen langfristig erhalten mögen, auch wenn die Pandemie einmal hoffentlich vorbei sein wird, war die Hoffnung, mit der ein intensiver gemeinsamer Abend zu einem schwierigen und wichtigen Thema zu Ende ging.

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„Ich fühle mich hohl“
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