Rückblick:
Zwischen individueller Therapie und Schutz der Allgemeinheit

Maßregelvollzug ist das Thema der stark besuchten Veranstaltung.

Über 100 Zuhörerinnen und Zuhörer sitzen im großen Saal des Besucherzentrums des LWL-Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt. “Es gab sogar eine Warteliste”, freut sich Stefanie Westermann von der Evangelischen Akademie Villigst über den Zuspruch für die Tagesveranstaltung, bei der es um den Umgang mit psychisch kranken Straftäter*innen geht. Polizeikräfte, Mitarbeitende diakonischer Einrichtungen, Schöff*innen sitzen im Publikum. Sie alle wollen sich nicht nur räumlich dem Ort und der Arbeit an diesem Ort nähern.

Forensik-Tagung

Als Titel auf dem Einladungsflyer steht: “Zwischen individueller Therapie und Schutz der Allgemeinheit” Und in diesem Spannungsverhältnis stehen alle Redebeiträge an diesem Vormittag sowie die Führungen durch die Einrichtung und die Gespräche mit Patienten am Nachmittag. Stefanie Westermann, die die Veranstaltung in Verbindung mit dem LWL organisiert hat, beschreibt es einleitend: Menschen, die Straftaten begangen haben, aber als nicht schuldfähig beurteilt werden, kommen in eine Einrichtung der Forensischen Psychiatrie. Die Behandlung der Patient*innen steht im Vordergrund, gleichzeitig soll die Bevölkerung vor möglichen weiteren Straftaten geschützt werden. Drei Fragen werden den Tag bestimmen: Wie kommen Menschen in eine solche Einrichtung, was wird mit ihnen gemacht, wie geht es wieder hinaus?

Dass die Unterbringung im Maßregelvollzug ein großer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte darstellt und für Richterinnen und Richter mit das juristisch Anspruchsvollste ist, betont Volker Talarowski in seinem Eröffnungsvortrag. Er ist Vorsitzender Richter am Landgericht Bochum und spricht über das Geflecht von psychischen Erkrankungen, Straftaten und Strafrecht. Zu den Aufgaben des Richters gehört es, zu klären, welche Rolle eine psychische Erkrankung bei einer schweren Straftat gespielt hat, ob es sich vielleicht um einen einmaligen “Ausreißer” gehandelt hat oder ob weitere, schwere Straftaten zu erwarten sind. Gutachterinnen und Gutachter helfen dabei, eine mögliche Schuldunfähigkeit festzustellen. Anders als im Strafvollzug gibt es kein festgesetztes Ende der Unterbringung, aber einen steten Überprüfungsprozess, ob der Aufenthalt im Maßregelvollzug noch zu rechtfertigen ist - bezogen auf die Patientin und den Patienten wie auf die zu schützende Allgemeinheit.

Wie groß ist die Gefahr, die von Menschen hinter den hohen Zäunen einer forensischen Klinik ausgeht, fragt Richter Talarowski. In einer forensischen Klinik jedenfalls würden die Krankheiten behandelt. Um Betreuung geht es, um Behandlung, um Ausbildung und die Vorbereitung auf ein Leben außerhalb der Einrichtung, und immer wieder um Schutz: zum Teil um den Schutz der Patient*innen vor sich selbst, um die Sicherheit der Betreuenden, um das Schutzbedürfnis der Allgemeinheit.

Vor allem bei der Führung über das Einrichtungsgelände wird das deutlich. In kleinen Gruppen geht es durch die Sicherheitsschleuse auf die Station. Eine starke Zuwendung wird deutlich hin zu Menschen, für die Krankheit und straffälliges Verhalten eine Verbindung eingegangen sind und deren Risiko für andere Menschen nun gemindert werden soll. Meist sind es Psychosen, die die Patienten mitbringen, vielfach auch Persönlichkeitsstörungen. Auf Medikamente sprechen sie an oder auf Gesprächstherapien, mitunter aber bleiben sie auch eine Gefahr für sich selbst und für andere. Und nicht jeder strebt danach, schnell aus dieser geschützten Umgebung herauszukommen.

Noch mehr „Vorsorgeforensik“ wünscht sich Janina Telgmann vom LWL-Zentrum in ihrer Vorstellung von Betreuungsmaßnahmen nach dem Maßregelvollzug, “damit es kein zweites Mal gibt.” Auch viele erste Male wären nicht nötig, zeigt sich Tilmann Hollweg, Landesrat und LWL-Maßregelvollzugsdezernent, überzeugt, zentral sei es, mehr psychiatrische Vorsorge zu ermöglichen. Die gezielte Behandlung und das Netzwerk der Nachsorge bewirken, dass die Rückfallquote deutlich geringer ist als sonst bei Straftäter*innen, antwortet Hollweg auf eine Frage aus dem Publikum. 

Die Forensische Psychiatrie in Lippstadt hat 335 Plätze. Die Einrichtung ist voll belegt. Es gibt ein Raumproblem, es gibt ein Personalproblem, und es gibt ein Akzeptanzproblem für diese aufwendige Form der Unterbringung, erfahren die Besucher*innen an diesem Tag. Mit interessierten Blicken haben sie sich in der Einrichtung umgesehen, aber auch etwas befangen. Das gilt auch für die Möglichkeit zum direkten Gespräch mit Patienten, das alternativ zu den überbuchten Führungen gemacht worden ist. Schwer vorstellbar, dass von ihnen teils grausame Taten verübt worden sind. Tilmann Hollweg hat dieses Spannungsfeld schon in seiner Begrüßung angesprochen und von der wohl häufigsten, an ihn herangetragenen Besucher-Erkenntnis berichtet: “Das sind ja Menschen und keine Monster.”

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Dr. Stefanie Westermann, Studienleiterin für Naturwissenschaft, Technik und Ethik

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