„Wir müssen mit den Kindern denken“
Schwerte. „Ich hab jetzt 15 Monate meine achtjährige Tochter nicht gesehen, weil es nicht erlaubt ist - was hat das denn mit Resozialisierung zu tun?“, fragt sich ein 42-jähriger Vater im geschlossenen Vollzug, und fährt fort: „Wie soll ich da eine Beziehung zu meinem Kind aufrecht erhalten?“. Eine 38-jährige Mutter, ebenfalls im geschlossenen Vollzug, berichtet: „Telefonieren? Nein, der
Beamte hat gesagt: ‚Das ist reine Nettigkeit, wenn ich Sie telefonieren lasse. Sie können skypen.‘ Ja klar, aber meine vier und sechs Jahre alten Kinder können nicht 70 Minuten vor dem Minibildschirm sitzen und auf das Handy starren. Und wenn sie nicht auf meinem Bildschirm zu sehen sind, wird abgebrochen.“ Eine Inhaftierte im offenen Vollzug erzählt: „Ich bin glücklich und dankbar im Offenen Vollzug zu sein, dadurch kann ich viel enger den Kontakt zu meiner Familie und meinen Freunden halten.“ Auszüge aus Interviews mit Betroffenen, die sich im geschlossenen bzw. offenem Vollzug in Nordrhein-Westfalen befinden und sich zu den schwierigen Bedingungen äußern, ihre Beziehungen zu den Angehörigen am Leben zu halten.
13.000 Menschen sind aktuell in NRW inhaftiert. Sie alle haben Partner oder Partnerinnen, Kinder, Enkel, Eltern und Freunde. Menschen, zu denen sie auch während ihrer Haft den so wichtigen Kontakt halten möchten. Die Justiz hat bereits erste Schritte gemacht, die sozialen Beziehungen zu stärken. So wurde die Besuchszeit von einer auf mindestens zwei Stunden im Monat erhöht. Und auch das Konzept „Familiensensibler Justizvollzug in Nordrhein-Westfalen“ benennt verpflichtende Mindeststandards. Dennoch: Reicht das aus, um soziale Beziehungen in der Haftzeit aufrecht zu erhalten oder gar zu stärken? Oder ist eine Inhaftierung mit sozialem Beziehungsabbruch gleichzusetzen? Schließlich stehen die Chancen für eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft nachweislich ungleich höher, wenn Inhaftierte über stabile soziale Beziehungen außerhalb der Haft verfügen.
Wie können die Akteurinnen und Akteure unterschiedlicher Bereiche und Professionen mit ihrem jeweiligen Auftrag gemeinsam mit Politik und Justiz die Inhaftierten und ihre Bezugspersonen beim Aufbau und Erhalt ihrer sozialen Beziehungen unterstützen? Mit dieser Frage beschäftigte sich der Fachtag „Inhaftierung, Familie und soziale Beziehungen“, zu dem das Institut für Kirche und Gesellschaft eingeladen hatte. Zusammen gekommen waren rund 60 Vertreterinnen und Vertreter der Politik, Wissenschaftler, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von Justizvollzugsanstalten aber auch Inhaftierte selbst. Sie nahmen die unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema in den Blick und diskutierten die damit verbundenen Herausforderungen.
Caroline Ströttchen, Leitende Ministerialrätin im Justizministerium von Nordrhein-Westfalen, eröffnete mit einem Grußwort die Tagung. Sie berichtet von den Ergebnissen eines Forschungsprojektes (COPING Studie), das die physische, psychische und geistige Verfassung von Kindern von Strafgefangenen in den Blick genommen hat. Dabei wurde festgestellt, so die Ministerialrätin, dass 75 Prozent der betroffenen Kinder unter Beeinträchtigungen ihrer Entwicklung leiden. Caroline Ströttchen: „Kinder inhaftierter Eltern stellen damit eine Risikogruppe das: Sie wachsen häufig in Multi-Problemmilieus auf und sind vielfältigen Risikofaktoren ausgesetzt. Kinder inhaftierter Eltern weisen eine erhöhte Lebenszeitprävalenz für psychische Erkrankungen auf und haben ein erhöhtes Risiko, selbst straffällig bzw. inhaftiert zu werden.“ Ströttchen sieht es als Aufgabe an, „...sich den Lebenswelten von Kindern inhaftierter Eltern in besonderer Weise zu widmen und den Justizvollzug an dieser Stelle entscheidend zu verbessern.“
„Soziale Beziehungen unter einschränkenden Kontextbedingungen – zum Spannungsverhältnis von Familie und Strafvollzug“ – mit dem Blick auf diesen Aspekt stieg Professor Christoph de Oliveira von der TU Dortmund in seinem Vortrag in den Themenbereich des Tages ein. Eines seiner Fazite lautete: „Der systematische Einbezug von Familienangehörigen, insbesondere Kindern, sollte in mit Freiheits- und damit zugleich Beziehungsentzug verbundenen Institutionen, zum unhintergehbaren Standard gehören.“ Auch die qualitativen Aspekte der von Kindern und Eltern gemeinsam verbrachten Zeit sollte, so Christoph de Oliveira, berücksichtigt werden. Das könne beispielsweise geschehen durch die „Ermöglichung kindgerechter Aktivitäten in einer möglichst natürlichen und in der Privatheit angemessenen Umgebung“.
Professor Philipp Walkenhorst – bis 2019 Inhaber des Lehrstuhls für Erziehungshilfe und Soziale Arbeit an der Universität zu Köln – beschäftigte sich in seinem Vortrag mit den „Folgen einer Inhaftierung für die betroffenen Menschen und deren Angehörige – Konsequenzen für den Justizvollzug“. Walkenhorst ist davon überzeugt, dass „Forschungs- und Handlungsbedarf besteht bei der Frage, mit welchen Zielsetzungen und welchen Erfolg versprechenden Ansätzen die negativen Auswirkungen auf die sogenannten ‚Mitbestraften Dritten‘ gemindert werden können.“ Ihm geht es um die Erhaltung und Pflege gut funktionierender Familien- und Partnerschaftsbeziehungen und besonders die Unterstützung und Förderung der Kinder von Inhaftierten hinsichtlich ihrer Grundrechte auf gute Entwicklungsbedingungen. „Die Inhaftierung wird durchweg als einschneidendes und dramatisches Erlebnis für die ganze Familie beziehungsweise Lebensgemeinschaft mit teilweise traumatischen und auch kriminogenen Folgen für die Kinder angesehen“, berichtet Walkenhorst. Stigmatisierung, Diskriminierung, soziale Benachteiligung, Ausgrenzung und existenzielle Ängste
sind als Stichworte zu nennen.
Nach den Vorträgen, die die Problematik, die Folgen und die Herausforderungen der Inhaftierung bezogen auf das soziale Umfeld in den Blick genommen hatten, konnten sich die Gäste des Fachtags in mehreren Arbeitsgruppen austauschen. „Kinderrechte gehören stärker in den Mittelpunkt“, „der Familiensensible Vollzug muss weiter ausgebaut werden“, „die Kontakterleichterung als Grundlage für die Resozialisierung ist wesentlich“ oder auch „Jugendhilfe und Justizvollzugsanstalten sollten stärker zusammen arbeiten“ - so lauteten einige der Rückmeldungen aus den einzelnen Gruppen.
Aufgrund einer Plenarsitzung im Landtag konnten die eingeladenen politischen Vertreter im Landtag nicht persönlich bei der Tagung erscheinen. Franziska Ribechini, wissenschaftliche Referentin in der Fraktion der Grünen im Landtag, berichtete, dass das Thema des familiensensiblen Strafvollzugs und die Wichtigkeit der sozialen und familiären Beziehungen in der Politik angekommen seien. Allerdings würden Theorie und Praxis auseinanderklaffen. Sie sprach sich unter anderem dafür aus, kindgerechte Informationen über Inhaftierung aufzubereiten und zu vermitteln. „Wir müssen mit den Kindern denken. Sie wissen, was sie brauchen, was ihnen fehlt“, ergänzte Melanie Rau, wissenschaftliche Referentin in der SPD-Landtagsfraktion. Sie sprach sich für ein Anhörungsrecht der
Kinder auch im Landtag aus.
Fast ein Schlusswort gab es von Marcel Gau, der als psychologischer Psychotherapeut in der JVA Bielefeld-Senne im Bereich des offenen Vollzugs für Frauen tätig ist: „Familiensensibler Vollzug dient der Prävention und ist ein Dienst an der Gesellschaft. Er hat großen Anteil daran, dass zukünftige Straftaten, aber auch psychische Erkrankungen vermieden werden können.
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