Seit 75 Jahren…
Zum Geburtstag der Evangelischen Akademie Villigst

Zum 75. Jubiläum blickt die Evangelische Akademie Villigst auf eine lange Geschichte des Dialogs und der Auseinandersetzung mit den jeweils drängenden Fragen der Zeit zurück.

Collage Postkarten Akademie Jubiläum_end

Wie eine demokratische Gesellschaft aufbauen? Wie über strittige Themen ins Gespräch kommen? Wie für Menschlichkeit und Gerechtigkeit streiten? Das sind nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zentrale Fragen.

Die Idee, Orte zu schaffen für den Diskurs über gesellschaftspolitische und theologische Themen führt, kurz nach dem Ende des Nationalsozialismus zur Gründung Evangelischer Akademien in verschiedenen Landeskirchen. Nachdem in Westfalen in den ersten Jahren bereits offene Gesprächskreise diese Diskurs-Arbeit begonnen haben, gründet sich 1950 die Evangelische Akademie Rheinland-Westfalen – wenn auch nicht offiziell, wie ein Bericht des damaligen Leiters zeigt: „Meine Frage an die Leitung in Bielefeld, ob nicht ein feierlicher Anfang gemacht werden könne, wurde stets mit der Bitte: ‚Noch abwarten!‘ beantwortet. So ist die Ev. Akademie niemals offiziell eröffnet worden.“ 1

Und der Name? „Rheinland-Westfalen“? „Immer wieder hat dieser Name in späteren Jahren Aufmerksamkeit und erstaunte Fragen hervorgerufen. Erst 1983 wurde er im gegenseitigen Einvernehmen zugunsten des jetzigen Namens aufgegeben.“ 2

Sitz der Akademie wird zunächst das Wasserschloss Hemer. Aber Veranstaltungen finden – unter hohem persönlichem Einsatz des damaligen Leiters – an vielen verschiedenen Orten statt: „Die Akademiearbeit vollzog sich in den ersten Jahren als Wanderakademie. Tagungen hielten wir ab in Bielefeld, Friedewald, Villigst, Haus Friede bei Hattingen, Handorf bei Münster, Hasensprungmühle bei Düsseldorf, Hilchenbach und anderswo. […] So war ich einige Jahre auf den Landstraßen von Rheinland-Westfalen und erlitt mehrere Unfälle.“ 3

Seit Mitte der 1950er Jahre ist die Akademie dann in Haus Ortlohn in Iserlohn zuhause, einer Fabrikantenvilla mit weitläufigem Park. Hier wächst die Akademiearbeit stetig. Das Themenfeld reicht von Vertriebenenfragen über ökumenische und soziale Themen bis zur medizinischen Ethik. Der interdisziplinäre Charakter, der kritisch-konstruktive Austausch ist auch damals prägend für die Akademiearbeit: „Ich wüsste keine bessere Institution zu nennen als die Evangelische Akademie, in der jeder Fakultät und Disziplin Gelegenheit gegeben wird, das ihre zu sagen, aber auch den Kontext zu wagen, damit Lösungen formuliert werden, die das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft zum Frieden hin ermöglicht.“ 4

Von Beginn an haben viele Mitarbeitende aus unterschiedlichen Bereichen das Gelingen von Veranstaltungen ermöglicht und den „Geist“ der Akademie geprägt. Und dabei Einiges erlebt: „Zum Schluss möchte ich aus dem ‚Nähkästchen einer Hausmutter‘ eine kleine Begebenheit erzählen, die in ihrer Komik unübertroffen ist: Eine Tagung für ‚Alte Künstler‘ ging zu Ende. Es gab als Abschlussmahlzeit eine gute Samstags-Erbsensuppe mit viel Porree. Einer der Gäste hielt eine Dankesrede und hatte dabei ein Stückchen Porree am Kinn hängen, das lustig auf und ab wippte. Am Schluss seiner Rede verabschiedete er sich von mir mit einem Handkuss, und das Stückchen Porree wechselte auf meinen Handrücken über. Ehe ich es diskret entfernen konnte, stand ein alter Kammersänger auf, bedankte sich feurig ebenfalls mit einem Handkuss, und siehe da – das Stückchen Porree war fort.“ 5  […] „Am Ende meiner Tätigkeit möchte ich rückblickend sagen, dass alle Arbeit im Hause der Ev. Akademie ein Wagnis, ja sogar manchmal ein Abenteuer war. […] Meine Bitte an die jetzigen und die kommenden Mitarbeiter einerseits, an die Gäste andererseits, ist die, dass sie diesem Wagnis und diesem Abenteuer ‚Ev. Akademie‘ nicht ausweichen möchten.“ 6

Seit Ende der 1960er Jahre erfolgen Aus- und Umbauten der Tagungsstätte, die Akademie bekommt das Nagelkreuz von Coventry und gehört nun zum Kreis der Internationalen Versöhnungszentren. Anfang der 1980er Jahre gibt es noch einen neuen Namen: „Evangelische Akademie Iserlohn“.

Auf gute, respektvolle Weise auch schwierige Themen anzugehen, auch das gehört von Beginn an zur Akademiearbeit. Zum 40. Geburtstag gratuliert der damalige Präses D. Hans-Martin Linnemann: „Ohne Vorschau, ohne Träume und Visionen bewegt sich nichts. Für die Evangelische Akademie ist das Voraus- und Querdenken unverzichtbar. Sie bewegt sich zwischen Kirche und Gesellschaft und ist zuweilen unbequem nach beiden Seiten.7

Ende der 1990er Jahre fällt der Entschluss der Landeskirche, das Institut für Kirche und Gesellschaft zu gründen, zu der auch die Akademie gehören soll. 2007 erfolgt der gemeinsame Umzug von Iserlohn nach Villigst. Haus Villigst wird zur neuen Tagungsstätte, die Akademie bleibt die Akademie, nun im Institut für Kirche und Gesellschaft (IKG).

In all den Jahren fand eine große Vielfalt von Veranstaltungen mit Gästen aus dem In- und Ausland statt. Begleitet wurde und wird die Akademiearbeit dabei von den eingangs genannten Fragen nach der Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft und den Möglichkeiten des Dialogs über wichtige strittige Themen des Zusammenlebens. Auch wenn sich einzelne thematische Schwerpunkte im Laufe der Jahrzehnte verändert haben, haben diese Fragen bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Norbert Lammert, Präsident des Deutschen Bundestages a. D., formulierte es 2023 so: „Demokratie braucht Demokraten – und sie braucht gesellschaftliche Institutionen, die diese Einsicht immer wieder neu vermitteln. Die Evangelische Akademie Villigst gehört dazu.“ 8

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1 Pfarrer W. Becker, damaliger Akademieleiter, zitiert aus: Forum Haus Ortlohn Freundebrief (Hrsg.): 20 Jahre Evangelische Akademie, 3.u.4. Quartal 1970, Jahrg. 1, Nr. 62-63, S. 15
2 Walter Schmidt, Dabei und Mittendrin – Ein Blick in die Geschichte der Evangelischen Akademie von Westfalen, Materialien für den Dienst in der Evangelischen Kirche von Westfalen: 40 Jahre Evangelische Akademie Iserlohn. Rückblick – Ansichten – Vorschau, Bielefeld 1990, S. 11
3 zitiert aus: Forum Haus Ortlohn Freundebrief (Hrsg.): 20 Jahre Evangelische Akademie, 3.u.4. Quartal 1970, Jahrg. 1, Nr. 62-63, S. 16
4 Wilhelm Giesen, Arbeitsgemeinschaft „Arzt und Seelsorger“, zitiert aus: Forum Haus Ortlohn Freundebrief (Hrsg.): 20 Jahre Evangelische Akademie, 3.u.4. Quartal 1970, Jahrg. 1, Nr. 62-63, S. 30
5 A. M. Tzschachmann, zitiert aus: Forum Haus Ortlohn Freundebrief (Hrsg.): 20 Jahre Evangelische Akademie, 3.u.4. Quartal 1970, Jahrg. 1, Nr. 62-63, S. 44
6 Ebd., S. 45
7 Materialien für den Dienst in der Evangelischen Kirche von Westfalen: 40 Jahre Evangelische Akademie Iserlohn. Rückblick – Ansichten – Vorschau, Bielefeld 1990, S. 5
8 Aus einer Korrespondenz zwischen Norbert Lammert und Kerstin Gralher, Evangelische Akademie Villigst.

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