Bis heute sind das menschliche Gehirn und seine Erkrankungen nur in Ansätzen verstanden. Vor dem Hintergrund psychischer und dementieller Erkrankungen, die einen hohen Leidensdruck bei den Betroffenen und große gesellschaftliche Kosten verursachen, ist die Erforschung des Gehirns daher von besonderer Bedeutung. Zugleich hat diese Forschung immer auch mit unserem menschlichen Selbstverständnis zu tun.
Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist in einer Gesellschaft, die sich selbst als „Wissensgesellschaft“ begreift, von grundlegender Bedeutung. Schließlich werden nicht zuletzt auch immer wieder wissenschaftspolitische Entscheidungen getroffen: Welche Forschungsansätze sollen wie gefördert werden, wohin sollen die, ja immer auch begrenzten, Ressourcen gehen?
Ziel der gemeinsamen Veranstaltung der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und der Evangelischen Akademie Villigst war es, Wissenschaft und Gesellschaft zu einigen der großen Forschungsfragen unserer Gegenwart zusammenzubringen: Der Forschung am menschlichen Gehirn.
Psychische Leiden betreffen einen großen Teil der Bevölkerung und sind für immer mehr Fehltage und den Großteil der Frühverrentungen verantwortlich. Zudem nehmen in einer älter werdenden Gesellschaft neurodegenerative, insbesondere dementielle Erkrankungen zu. All diese Erkrankungen des menschlichen Gehirns verursachen viel Leid und hohe gesellschaftliche Kosten. Und die Forschung steht zu einem besseren Verständnis der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge und der therapeutischen Möglichkeiten vor großen Herausforderungen.
Ein zentraler Grund ist, dass das menschliche Gehirn bis heute nur teilweise verstanden ist. Ähnliches gilt für viele neurologische und psychiatrische Erkrankungen. Und ohne ein solches Verständnis der Krankheitsmechanismen und der genauen Funktionen eines gesunden Gehirns stoßen auch therapeutische Ansätze wie beispielsweise die Entwicklung von Medikamenten an ihre Grenzen.
Neben einem besseren Verständnis geht es bei der Beschäftigung mit dem menschlichen Gehirn aber auch immer um unser Selbstverständnis als Mensch: Wie nehmen wir die Welt wahr, wie fällen wir Entscheidungen, was bedeutet es, „bewusst“ Dinge zu tun? Diese Fragen sind aufs engste mit dem Organ verbunden – und auch der besondere Diskussionsbedarf, den viele bei der Frage von Forschung zum menschlichen Gehirn verspüren, hat wohl damit zu tun.
Die Forschungsarbeit am Gehirn ist kein Unterfangen der letzten Jahrzehnte. Sie hat eine lange Tradition, welche oftmals auf schmalem Grat wanderte und immer wieder in Abgründe versank. Insbesondere im Nationalsozialismus, aber auch darüber hinaus kam es zu schweren Menschenrechtsverstößen im Namen von Forschung und Therapie. Blickt man auf die unterschiedlichen Forschungsansätze der letzten Jahrhunderte zurück, so wird deutlich: Die jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen, die „Moden“ der Forschung lenkten immer auch den Blick der Interpretation.
Ein Grund dafür, dass trotz aller Forschungsbemühungen dieses Organ bis heute so viele Fragen aufwirft, liegt darin, dass es kaum Modellsysteme gibt, um Vorgänge im menschlichen Gehirn zu untersuchen. Das Ausweichen auf Tierversuche in diesem Forschungsbereich ist nur begrenzt hilfreich. Die sehr hohe gesellschaftspolitische Bedeutung des Themas auf der einen Seite und die schwierige Ausgangssituation für die Forschung auf der anderen Seite war ein Grund dafür, dass die Europäische Union vor etwa 10 Jahren das HumanBrainProject – ausgestattet mit hohen Forschungsgeldern – gestartet hat. Hier wird daran gearbeitet, mithilfe computerbasierter Modelle das menschliche Gehirn beziehungsweise einzelne Prozesse besser zu verstehen. Ein anderer Forschungsansatz arbeitet mit sogenannten Hirnorganoiden. Mithilfe dieser aus humanen Stammzellen hergestellten, dreidimensionalen Zellkulturen wird versucht, einzelne Vorgänge im menschlichen Gehirn nachzuvollziehen. Zudem lassen sich diese Hirnorganoide aus den Stammzellen eines Patienten entwickeln und sind somit individualisiert. Perspektivisch versprechen sie damit auch eine mögliche Testung von Wirkstoffen direkt an den Zellen des betroffenen Patienten. In der öffentlichen Wahrnehmung werden diese Hirnorganoide, die zum Teil auch in Tiere transplantiert werden, immer wieder auch kritisch hinterfragt.
Grundsätzlich müssen sich alle Forschungsansätze, die sich mit dem menschlichen Gehirn befassen, ethischen Fragen stellen. Ethische Fragen stellen sich aber nicht nur mit Blick auf die Forschung, sondern auch hinsichtlich therapeutischer Ansätze zur Behandlung psychischer oder neurodegenerativer Erkrankungen. Denn sie haben oftmals Auswirkungen auf Bewusstsein und Verhalten der betroffenen Patientinnen und Patienten, sei es intendiert oder als unerwünschte Nebenwirkung der Therapie. Grundlegende ethische Fragen stellen sich auch mit Blick auf Forschungsansätze, die sich der Verbesserung menschlicher Fähigkeiten widmen oder für solche Zwecke verwendet werden können (sogenannte dual-use-Problematik), wie beispielsweise Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain Computer Interfaces).
Trotz aller vielversprechenden Ansätze wie computerbasierten Modellen oder Zellkulturen: Die Herausforderung, die Aktivitäten einer sehr großen Zahl von Nervenzellen, ihre Wechselwirkungen in ihrer enormen Komplexität zu erfassen, bleibt groß – aber auch lohnenswert. Erst ein tieferes Verständnis des Aufbaus und der Abläufe eröffnet neue Perspektiven auf die Ursachen der Krankheiten des menschlichen Gehirns – und möglicher therapeutischer Ansätze.