Ende Mai 2024 fand die Indische Literaturtagung zusammen mit dem Literaturforum Indien e.V. in Villigst statt. Die Hauptfragestellung bestand darin herauszufinden, ob und wie sich ökologische Themen einen Weg in die Literatur gebahnt hatten. In dem Land, das traurige Berühmtheit für den weltweit größten, tödlichsten und bisher juristisch und finanziell nicht aufgearbeiteten Chemieunfall erlangt hatte, sollte das eine ergiebige Fragestellung sein. Zumal die Fabrik in Bhopal und das Gelände bis heute noch so da stehen, wie sie nach dem Unfall 1984 vorgefunden wurden, nicht dekontaminiert, nicht saniert, nicht abgebaut – inzwischen nur etwas überwachsen und mit erstaunlichen Figuren bevölkert – doch dazu noch später.
Indien hat sich in den vergangenen 40 Jahren einer enormen wirtschaftlichen Entwicklung unterworfen, die nicht nur ganze Landstriche umgestaltete – allein die Wasserkraftanlage der Tehri-Talsperre im Himalaya hatten Umsiedlungen von mehr als 100.000 Menschen zur Folge –, sondern auch soziale Dynamiken anstieß, die die Gesellschaft extrem herausfordern.
Indien und Südasien sind eine Region voller unterschiedlicher Kulturen, Sprachen und Lebensräumen. Die Erzählungen der Menschen wurden und werden zum Teil nur mündlich weitergegeben. Bei den Adivasi, den Ureinwohnern Indiens, gibt es inzwischen aber eine ganze Reihe von Lyrikern, die ihre politischen und gesellschaftlichen Anliegen in Poesie umsetzen, so dass viel mehr Menschen Anteil daran haben können. Die Landschaften prägen die Erzählungen und die Autoren. Trotz der massiven Hinduisierung und Christianisierung im Zuge der Kolonialisierung gibt es überall noch animistische Vorstellungen. Natur kommentiert das Leben der Menschen, ist Symbol für das eigene Gefühlsleben; sie spricht zu dem Menschen, der in ihr und mit ihr lebt. Bei Amitav Ghoschs Romanen beispielsweise über die Sundarbans, den größten Mangrovenwäldern der Welt, (The hungry tide und Gun Merchant) wird die Natur selbst zum Protagonisten und ist beseelt von alten Mythen. Die Kohärenz von Zeit, Ort und Handlung wird beständig durchbrochen, da die Vergangenheit immer in der Gegenwart anwesend ist – diese kugelhafte Vorstellung von Zeit wiederum ist ein Bild für die enge Verzahnung von Natur, Mensch und den natürlichen Abläufen.
Indra Sinha rückt mit seinem 2007 veröffentlichten Roman Menschentier die Perspektive der Opfer des Chemieunfalls von 1984 in den Fokus, indem er einen literarischen Protagonisten schuf, Animal (der einem realen Vorbild anverwandt ist – einen jungem Mann, der aufgrund der Verkrüppelungen und Mißbildungen, die nach dem Unfall bis heute häufig bei Neugeborenen auftreten, immer nur auf allen vieren gehen kann), welcher zusammen mit einer verrückten französischen Nonne Ma Franci und seinem Hund Jara lebt und sich auf dem Gelände der verlassenen Chemiefabrik einen Rückzugsort geschaffen hat. Der Roman entstand aus fiktiven Tonbandaufzeichnungen des jungen Mannes mit einem Journalisten des Kakadu (!), der die Geschichte der mittelbaren Opfer des Unfalls in Khaufpur, dem fiktiven Erzählort, aufzeichnet und darüber berichten will. Der literarisch, sprachlich und gesellschaftspolitisch ambitionierte Roman stand 2007 auf der Short-List des Man Booker-Prize und verfehlt bei heute seine Wirkung nicht.
Neben vielen anderen literarischen und erzählerischen Beispielen für die ergiebige Verbindung von Ökologie und Literatur gab es in der Tagung auch noch einen besonderen Höhepunkt, nämlich die Erstvorstellung eines Bandes deutscher Gedichtübersetzungen von Sugathakumari, einer indischen Dichterin, die 2020 an Covid verstorben ist und die dieses Jahr 90 Jahre alt geworden wäre. In ganz Indien wird sie ein Jahr lang gefeiert, denn sie ist nicht nur als unbestechliche Lyrikerin bekannt geworden, sondern hat eine Reihe von Preisen auch für ihr Umweltengagement in Indien erhalten. Sie hat ökologische Fragen ganz selbstverständlich zum Thema zeitgenössischer Malayalam Literatur gemacht und wird bis heute umfänglich rezipiert. Dieser Teil der Tagung wurde aufgezeichnet und steht medial der Literaturwissenschaft in Indien zur Verfügung.
Neben Roman von Amitav Gosh und Indra Sinah wurden Texte und Werke von Easterine Kire, Anuj Lugun, Sugathakumari, verschiedenen Adivasi-Autoren, tamilischen Autoren, Purnachandra Tejasvi und Marathi-Dichtern bei dieser Tagung besprochen und boten eine große Fülle sowohl in der Sujetauswahl, der sprachlichen Darstellung, der Stilistik und des gesellschaftlich-politischen Interesses.
Die Spurensuchen durch das Themenfeld in der indischen und südasiatischen Literatur in bezug auf ökologische Fragen hatte allen Beteiligten reiche Ernte beschert.
Kerstin Gralher
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