Unsere Unberührbaren

Zur Situation psychisch erkrankter und in Obdachlosigkeit lebender Menschen

An einem Samstag Mitte Juni kam ich in der Dortmunder Innenstadt an einer älteren Dame vorbei. Allem Anschein nach auf der Straße lebend und ihren Besitz in einem Einkaufswagen schiebend, fragte ich sie, ob sie vielleicht einen Kaffee möchte. Kaum hatte sie gesagt, sie könnte vielleicht noch einen trinken – also war ich möglicherweise nicht die erste gewesen mit dieser Frage –, war ich schon auf dem Weg zum Marktstand, als mich ein Mann ansprach und nach Geld fragte, deutlich weniger gepflegt und weniger sympathisch. Ich lehnte ab, hatte schließlich ja auch schon eine Mission.

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Als ich mit dem Kaffee zurückkam, war bereits eine andere Passantin mit ihr im Gespräch. Ich gab ihr den Kaffee, wechselte noch zwei Sätze und ging meines Weges. Schon da dämmerte mir die Absurdität des Ganzen: Eine Reihe von Vorbeikommenden „stritten“ sich um die nette auf der Straße lebende ältere Dame, aber um den auffälligen Mann haben wir alle einen Bogen gemacht. Während mein Verhalten und das der anderen als „Creaming Effekt“ verstanden werden kann, ich mir also in der Gruppe der auf der Straße lebenden Menschen die freundliche und gut angezogene Dame herausgepickt habe, werden andere ignoriert oder gemieden.

Der Ausdruck „Unsere Unberührbaren“ als Titel einer Tagung der Evangelischen Akademie Villigst im Juli dieses Jahres beschreibt vielleicht ganz gut die Situation: Die als unterste angesehene soziale Gruppe unserer Gesellschaft, analog dem indischen Kastensystem. Menschen, die auf der Straße leben, (schwer) psychisch krank sind und infolgedessen aus den unterschiedlichen Hilfesystemen herausgefallen sind bzw. diese nicht in Anspruch nehmen können oder wollen. Und die damit schnell zu Menschen werden können, die ungepflegt wirken, bei denen wir vielleicht das Gefühl haben, derjenige oder diejenige würde in einer anderen Welt leben, die uns möglicherweise fremd, vielleicht gar gefährlich vorkommen, über die Passanten drübersteigen, um die nicht wenige einen Bogen machen.

Und, das wurde direkt zu Beginn der Tagung deutlich: Es sind viele Menschen. Etwa 440 000 Menschen in Deutschland leben ohne eigene Wohnung in Notunterkünften oder Unterbringungen, etwa 38 000 Menschen leben auf der Straße. Die Schätzungen, wie viele von ihnen psychisch erkrankt sind, variieren, sie liegen zumeist zwischen 50 und 80 Prozent.

Menschen, die auf der Straße leben und psychisch erkrankt sind, sind – wie es das „und“ nahelegt – gleich von mehreren Stigmatisierungen betroffen, die alle eine längere Geschichte haben. Und die sich in Zuschreibungen von „Minderwertigkeit“ treffen, die insbesondere im 20. Jahrhundert zunehmend Platz im Diskurs fanden und zu massiver Gewalt gegen die so Bezeichneten führten. Im Nationalsozialismus wurden in Obdachlosigkeit lebende Menschen als „Asoziale“ verunglimpft, in großer Zahl verfolgt, in Konzentrationslager gebracht, zwangssterilisiert. Zur gleichen Zeit wurden schwer psychisch erkrankte Menschen, auch sie bereits seit längerem als „minderwertig“ und „lebensunwert“ bezeichnet, massenhaft Opfer von Zwangssterilisationen und Tötungen im Rahmen der NS-„Euthanasie“. Auch nach 1945 blieb die Situation lange bedrückend, erst die Psychiatrie-Reform der 1970er Jahre brachte grundlegende Änderungen im Umgang mit schwer psychisch erkrankten Menschen. Und ebenfalls erst in den 1970er Jahren begann sich die Perspektive auf das Thema Obdachlosigkeit und die davon Betroffenen grundlegend zu ändern. Soziale Gründe und damit zunehmend sozialpolitische Hilfen und Beratungsangebote rückten in den Mittelpunkt.

Trotz aller Verbesserungen: Bis heute sind diese Menschen nach wie vor massiv von negativen Zuschreibungen, Stigmatisierungen und Ausgrenzungserfahrungen betroffen, die wiederum bei vielen zu einer großen Scham ob ihrer Situation führen. Nicht zuletzt werden Menschen, die auf der Straße leben, immer wieder Opfer von Gewalt, von Seiten anderer Menschen, die auf der Straße leben, aber auch von sogenannter Hasskriminalität und insbesondere betroffene Frauen auch von sexualisierter Gewalt.

Schaut man auf die Gründe, warum Menschen mit psychischen Erkrankungen auf der Straße leben, so gibt es nicht die eine Ursache, sondern eher ein Bündel von prekären Situationen und Brüchen in den verschiedenen Versorgungs- und Unterstützungssystemen, die eine solche Situation begünstigen können. Zu nennen sind hier unter anderem Probleme bei Übergängen, beispielsweise nach der Entlassung aus dem Strafvollzug oder bei Erreichung der Volljährigkeit und dem Wegfall des Jugendhilfesystems. Aber auch eine Fragmentierung der psychiatrischen Versorgung und fehlende passgenaue Schnittstellen zwischen den verschiedenen Versorgungsangeboten sowie lange Wartezeiten und hohe Voraussetzungen einer Behandlung, wie beispielsweise Alkohol-abstinent zu sein oder eine Reihe von festgelegten Terminen einhalten zu können, können eine Rolle spielen. 

Es ist dabei ein erklärtes politisches Ziel, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden, entsprechende Aktionspläne in Ländern und Kommunen gibt es, ob sie ausreichen – vor allem mit Blick auf das große Problem, das bezahlbarer Wohnraum in ausreichender Zahl fehlt – bleibt abzuwarten. Neben dem Ziel, Menschen wieder eine Wohnung zu ermöglichen, sollte es, auch das wurde bei der Tagung deutlich, auch ein Ziel sein, präventiv anzusetzen und Wohnungsverluste möglichst zu vermeiden und die Betroffenen, beispielsweise „Räumungsbeklagte“, gezielt zu unterstützen.

Mitarbeitende in den verschiedenen Hilfs- und Unterstützungssystemen fühlen sich im Umgang mit den Betroffenen, beispielsweise Menschen ohne Krankheitsbewusstsein, oft allein gelassen und nicht zuletzt vor diesem Hintergrund kommt es oft zu einer Verantwortungsverschiebung: die anderen, beispielsweise die Psychiatrien, sind zuständig. Aber, auch das wurde im Rahmen der Tagung deutlich: Kein System kann das derzeit allein schaffen, es braucht vielmehr Strukturen der gemeinsamen Versorgung. In verschiedenen Kommunen gibt es hierzu bereits Ansätze, beispielsweise in Form von Fallkonferenzen. Aber auch räumliche Veränderungen könnten hier schon einen großen Unterschied machen, beispielsweise sind die fehlenden Rückzugsräume aufgrund der nur selten verfügbaren Einzelzimmer in den Notunterkünften ein großes Potential für eskalierende Situationen.

Psychisch erkrankte und in Obdachlosigkeit lebende Menschen brauchen flexible Unterstützung und Hilfe, oft geht es darum, zunächst wieder eine Beziehung aufzubauen. Ziel sollte es sein, allen psychisch erkrankten wohnungslosen Menschen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen (und zwar möglichst barrierearm), rechtlich und finanziell abgesicherte Hilfen zu ermöglichen, auch für Menschen ohne EU-Staatsbürgerschaften. Notwendig sind verstärkt aufsuchende Angebote, aber beispielsweise auch eine psychiatrische Grundkompetenz in den verschiedenen Settings. Und all das möglichst unter Einbeziehung von und im Dialog mit allen Betroffenen.

Kontakt

Dr. Stefanie Westermann
02304 / 755 320
stefanie.westermann@kircheundgesellschaft.de
Iserlohner Straße 25
58239 Schwerte