Solidarität, Mitgefühl, Menschenrechte – und Rassismus

14. April 2022

Bedeutet die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine einen Paradigmenwechsel in der Flüchtlingspolitik?
Ein Artikel von Helge Hohmann

Seit der russischen Invasion in der Ukraine sind Millionen Menschen auf der Flucht. Der International Organization for Migration (IOM) zufolge sind inzwischen über 7 Millionen Menschen innerhalb des Landes geflohen (Stand: 1. April). Laut der Flüchtlingsorganisation der UNHCR sind seit dem 24. Februar rund 4.656.509 Personen aus der Ukraine geflohen. Davon hat allein Polen ca. 2,7 Mio. Menschen aufgenommen, wobei wahrscheinlich ein gewisser Anteil in andere Länder weitergereist ist. 

Über 331.600 Einreisen von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine wurden zwischen dem 24.02. und dem 11.04.2022 in Deutschland offiziell registriert. Da ukrainische Staatsbürger:innen ohne Visum in die Europäische Union einreisen dürfen und sich im Schengenraum frei bewegen können, ist schwer einzuschätzen, wie viele sich tatsächlich aktuell in der Bundesrepublik aufhalten. Es ist aber davon auszugehen, dass es deutlich mehr sind. Gleiches gilt für die Angabe der NRW-Landesregierung mit Stand vom 06.04.2022, dass sich in unserem Bundesland ca. 100.000 Geflüchtete aus der Ukraine befinden (Quelle für diese Zahlen: www.mediendienst-integration.de).

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Nach dem Lagebild des zuständigen Landesministeriums MKFFI vom 12.04. befinden sich 5.718 Personen aus der Ukraine in Unterbringungseinrichtungen des Landes, die anderen sind in den Kommunen in Sammelunterkünften, Privatwohnungen, bei Freund:innen oder Verwandten untergekommen. Das Land NRW hat in der Landesunterbringung 9.500 zusätzliche Plätze geschaffen.

Nach einer Befragung des Bundesinnenministeriums halten sich 42 % der Kriegsflüchtlinge in Großstädten auf, viele in der Hoffnung, dort eine Arbeit zu finden. 84 % von ihnen sind Frauen, davon 58 % mit Kindern gekommen. Fast alle waren in der Ukraine berufstätig oder in der Ausbildung. 42 % der Befragten wollen am jetzigen Ort bleiben. 32 % rechnen damit, bald in die Ukraine zurückzukehren. Knapp jede:r Fünfte weiß es noch nicht.

An den nüchternen Zahlen lässt sich jedoch nicht ablesen, was die Aufnahme der Geflüchteten aus der Ukraine für unsere Gesellschaft und die Migrationspolitik bedeutet. Noch nie wurden in so kurzer Zeit so viele Geflüchtete in Deutschland aufgenommen, nicht einmal in den Jahren 2015/16, in denen insgesamt ca. 900.000 Geflüchtete vor allem aus Syrien, Irak und Afghanistan ankamen.

 

Das Jahr 2021

Kurze Rückblende: im August 2021 ziehen sich die westlichen Staaten aus Afghanistan zurück, die Taliban übernehmen die Macht. Hektisch werden Evakuierungsmaßnahmen für afghanische Ortskräfte, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen, Journalist:innen und vulnerable Personen organisiert, die bei weitem nicht ausreichen. Viele der Betroffenen werden schutzlos zurückgelassen und warten bis heute auf ein seitdem angekündigtes Aufnahmeprogramm der Bundesregierung. Zu diesem Zeitpunkt war Bundestagswahlkampf in Deutschland. Viele Politiker:innen betonten vor allem die Sorge, nun könnten wieder viele Geflüchtete auf einen Schlag nach Europa und Deutschland kommen, gebündelt in einem Slogan: „2015 darf sich nicht wiederholen!“.

Ebenfalls ab August 2021, vor allem dann ab November 2021: der weißrussische Diktator Lukaschenko lockt tausende Schutzsuchende aus dem Irak, Syrien, Afghanistan und anderen Ländern mit dem Versprechen des Zugangs zur EU an, transportiert sie an die polnische, lettische und litauische Grenze und sorgt so für eine Krise an diesem Teil der EU-Außengrenze. Für tausende Flüchtlinge, Kinder, Frauen, Familien, endet eine teils jahrelange Flucht im Niemandsland an der Grenze, ohne Schutz, ohne medizinische Versorgung, ohne Anerkennung ihres Menschenrechts, Asyl beantragen zu können. Hunderte sterben im eiskalten Winter mitten im Wald. Polen schiebt die, die es über die Grenze schaffen, völkerrechtswidrig wieder zurück oder steckt sie ins Gefängnis. Er hat begonnen – mit EU-Mitteln – eine Mauer gegen Flüchtlinge zu bauen. Sie werden als „Waffe“ Lukaschenkos bezeichnet und damit entmenschlicht. Noch heute befinden sich Hunderte von ihnen in dieser Situation. Von der Öffnung der Grenze Polens für ukrainische Geflüchtete haben sie nichts. Der Mauerbau geht weiter.

Am 3.3.2022 beschließt der Rat der Europäischen Union angesichts der Millionen erwarteten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, die sogenannte „Massenzustrom-Richtlinie“ in Kraft zu setzen, die nach 2001 wegen der Jugoslawien-Kriege eingerichtet, aber bisher noch nie angewandt wurde. Diese Richtlinie ermöglicht ohne Asylverfahren den vorübergehenden Schutz von Vertriebenen bei Zugang zu Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung, Unterbringung und Arbeitsmarkt, verbunden mit der Möglichkeit, sich frei im Schengenraum zu bewegen.

Bundesinnenministerin Faeser begrüßt am gleichen Tag diesen Beschluss und nennt es einen „Paradigmenwechsel“, dass erstmals alle EU-Staaten zur Aufnahme von Geflüchteten bereit seien.

 

Wirklich ein Paradigmenwechsel?

In der Tat erweist sich diese Entscheidung als klug und pragmatisch, da sie die Hürden für die praktische Soforthilfe für die Fliehenden sehr niedrig hält und dem Engagement der Mitgliedsstaaten und deren Behörden, aber auch ihrer Zivilgesellschaft freien Lauf lässt. Sie trägt der evidenten Not der Fliehenden Rechnung und stellt zugleich sofort die Weichen in Richtung Integration. Die Hilfe durch Ehrenamtliche und Beratende muss sich nicht mit aufenthaltsrechtlichen Fragen aufhalten oder mit Ängsten vor drohender Abschiebung.

Aber stellt diese Entscheidung auch einen „Paradigmenwechsel“, also eine grundsätzliche Richtungsänderung in der Migrationspolitik dar? Können nun Geflüchtete aus allen Ländern damit rechnen, dass ihr Bleiberecht und ihre Integration Vorrang haben und ihr Aufenthalt nicht mehr in Frage gestellt wird?

Nicht nur aus der Sicht der Geflüchteten, die sich im Asylverfahren befinden, und derer, die sich seit Jahren als Unterstützende engagieren, zeigt sich eine andere Wirklichkeit.

Nicht einmal für alle Geflüchteten aus der Ukraine gelten die neuen, einfachen Regeln. Wer aus einem „Drittstaat“ wie etwa Ghana oder Iran kommt und zum Studieren in der Ukraine war, ist ausgeschlossen und soll, laut Verordnung des Bundesrates, in seine Heimat zurückkehren, es sei denn, er oder sie kann nicht sicher und dauerhaft dorthin. Aktuell haben die von dieser Regelung Betroffenen einen legalen Aufenthalt bis zum 31.08.2022. Theoretisch müssten sie danach ausreisen oder könnten abgeschoben werden.

 

Geflüchtete erster oder zweiter Klasse?

Es fällt auf, dass es immer wieder zu einer Schlechterstellung von Geflüchteten aus anderen Ländern als der Ukraine kommt. Sie werden nicht sofort in privaten Wohnraum vermittelt, sondern weiterhin gezwungen für bis zu 24 Monate in Großlagern zu bleiben. Sie erhalten kein Bargeld, sondern nur Sachmittel. Sie erhalten zunächst keine Arbeitserlaubnis, sondern unterliegen einem Arbeitsverbot. Sie erhalten keine Gesundheitskarte, sondern nur medizinische Hilfe im akuten Notfall. Sie erhalten keine Grundsicherung, sondern nur abgesenkte Mittel nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Ihnen droht die Abschiebung in andere Mitgliedsstaaten, wenn sie dort zuvor gewesen sind, und haben keine Freizügigkeit in Europa. In der Landesunterbringung wurden sie hin- und hergeschoben, um Platz zu machen für ukrainische Geflüchtete. Dabei spielte es keine Rolle, ob sie an einem Ort bereits Arbeit gefunden hatten oder eine Therapie im Psychosozialen Zentrum begonnen haben.

So ist es kein Wunder, dass inzwischen intensiv darüber diskutiert wird, ob es in Deutschland und Europa Flüchtlinge „erster und zweiter Klasse“ gibt. Die Frage muss schlicht und ergreifend mit „Ja“ beantwortet werden. Es stellt sich die Frage nach dem „Warum“.

Wie kommt es, dass wir trotz der extrem hohen Zahlen von Geflüchteten aus der Ukraine noch keine Debatte über die „Grenzen der Belastbarkeit“ haben, wie bereits nach 2 Monaten im Jahr 2015? Warum hören wir noch nicht die Wiederholung des Diktums des Bundespräsidenten a.D. Gauck: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich.“?

Eine Ursache ist sicher die ernsthaft empfundene Solidarität mit der brutal von Russland überfallenen Ukraine. Angesichts des Leides der Ukrainer:innen, das sich vor unseren Augen auf dem europäischen Kontinent ereignet, sind Empathie und Hilfsbereitschaft in unserer Gesellschaft und auch in den Kirchen die unmittelbare Reaktion, bis hin zur Bereitschaft, Kriegsflüchtlinge in der eigenen Wohnung aufzunehmen. Noch hat eine Agitation gegen ukrainische Geflüchtete in der Öffentlichkeit keine Chance. Es ist ermutigend, dass im Großteil unserer Gesellschaft eine Wertebasis besteht, die dafür sorgt, dass in solchen Krisensituationen Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Humanität und ein Bewusstsein für Menschenrechte aktiviert werden, ähnlich wie 2015/16, aber auch anlässlich der Flutkatastrophe im Sommer 2021.

 

Flüchtlingspolitik auf dem Prüfstand

Wir müssen uns aber, so fürchte ich, auch der Tatsache stellen, dass die massive Benachteiligung und Diskriminierung von Geflüchteten aus anderen Herkunftsländern, die aktuell und zeitgleich zur Solidaritätswelle geschieht, ihre Ursache in Rassismus in unseren Denk- und Machtstrukturen zu tun hat. Es ist offensichtlich, dass Hautfarbe, Herkunft, Religion von Geflüchteten dazu führen, dass sie durch Gesetze, Verwaltungsvorschriften, Behördenhandeln, aber auch auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt diskriminiert werden.

Das Gute ist: auf der Folie des vorbildlichen Umgangs mit ukrainischen Geflüchteten können wir umso besser erkennen, was zu tun ist. Die gesamte Flüchtlingsaufnahme in der EU und in Deutschland gehört auf den Prüfstand. Jede einzelne gesetzliche Regelung, jede Vorschrift, jeder Ablauf ist darauf zu überprüfen, ob dadurch eine grundlose Diskriminierung erfolgt. Es ist ein Perspektivwechsel nötig und möglich: Geflüchtete, aus welchem Land auch immer, sind zuallererst als Menschen anzusehen, die ihr Menschenrecht wahrnehmen, bei uns nach Schutz zu suchen. Und dann sind sie nicht als Gefahr anzusehen, sondern als Menschen, die hier ihre Chancen suchen und Chancen für unsere Gesellschaft mitbringen.

Wenn diese Perspektive in unserer Politik und in unserer Gesellschaft verankert ist, dann können wir auch von einem Paradigmenwechsel sprechen.

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