Mittlerweile ist es schon eine richtige Tradition geworden: Seit 2016 veranstaltet der Fachbereich „Frauen, Männer, Vielfalt“ ein Genderseminar zum Jahresbeginn. Zwanzig Menschen reisen dann in das ökumenisch geprägte Frauenstift Börstel bei Osnabrück, schauen auf das vergangene Jahr zurück und richten den Blick auf das kommende Jahr aus.
Gearbeitet wird u.a. in geschlechtergetrennten Gruppen, so dass männliche* und weibliche* Perspektiven benannt und der Austausch in homogenen Gruppen gepflegt werden kann. „Der Austausch unter Männern* ermöglicht uns eine besondere Tiefe im Gespräch. Männer teilen dann sehr Persönliches miteinander, auch Momente des Scheiterns oder Ängste, die ihren Alltag prägen“, so Martin Treichel, Landesmännerpfarrer der EKvW. Ihm ist es ein wichtiges Anliegen, tiefe Verbindungen unter Männern* zu fördern. „Und auch in unseren Frauen*runden kommen wir schnell sehr intensiv miteinander ins Gespräch, auch unter Frauen* unterschiedlicher Generationen“, meint Nicole Richter, Leiterin des Frauenreferates der EKvW. „Was hat mich im letzten Jahr belastet?“, „Was hat sich für mich in meiner Rolle als Frau*/Mann* verändert?“, „Was war ein besonderes spirituelles Erlebnis?“ oder „Woran bin ich gewachsen?“ – das alles waren Fragen, über die die Teilnehmer*innen miteinander in persönlichem Austausch standen.
Gerahmt werden die Gesprächsphasen von Tagzeitgebeten in der Stiftskirche, gemeinsamer Zeit am ‚langen Tisch‘ und Spaziergängen in der Umgebung des Stifts. Im Mittelpunkt des Seminars stehen darüber hinaus aber auch Inhalte zum Thema Geschlechtergerechtigkeit. Texte aus dem Buch „Unlearn Patriarchy“ („Das Patriarchat verlernen“) zeigten auf, wie über alle Gesellschaftsbereiche hinweg von Sprache und Liebe über Arbeit bis hin zu Politik, Bildung oder Identität die patriarchalen Handlungsmuster wirksam sind und einem besseren Leben für alle im Weg stehen. So schreibt zum Beispiel die Architektin Karin Hartmann darüber, wie Stadtplanung immer noch zu selten die Bedürfnisse von Frauen sowie alter oder eingeschränkter Menschen berücksichtigt. In öffentlichen Anlagen fehlten Bänke und Toiletten, was den Aufenthalt für Mütter oder ältere Menschen einschränke. Die Theologin Sarah Vecera stellt heraus, wie „weiß“ die Kirche noch immer ist und wie stark koloniale Denkmuster nachwirken. In den Gesprächen unter den Teilnehmenden wurde deutlich, wie massiv aber auch rassistische Klischees und kapitalistische Denkweisen unser Leben beeinflussen. Offensichtlich war: Es geht darum, Dinge zu hinterfragen, die bisher für selbstverständlich gehalten werden und sich zu fragen, ob es auch anders geht. Wenige Wochen vor den Bundestagswahlen wurden damit die biographischen Erfahrungen der Teilnehmenden in einen politischen Kontext gestellt.
Für 2026 ist das Genderneujahrsseminar im Stift Börstel vom 9. bis 11. Januar geplant.