Kennen wir uns?
Vom Schmerz des Vergessens und dem Glück des Augenblicks

„Luft holen - Meer atmen - Kraft tanken“ - unter diesem Titel fand vom 24. April bis 4. Mai 2022 auf Norderney das Seminar für Menschen mit Demenz und deren Angehörige statt. Landesmännerpfarrer Martin Treichel schildert seine Eindrücke und Erlebnisse.

Demenz

„Kennen wir uns?“ Herr St. schaut mich prüfend an. Er ist ein älterer, gutaussehender, gepflegter Mann. Blauer Pullover über kariertem Hemd, ein winzig kleines Hörgerät hinter den Ohren, ein breites Lachen. Als junger Mann hat er im Kloster gelebt, war später Arzt, hat einen Doktortitel in Medizin und einen in Soziologie. Die acht Jahrzehnte Lebenszeit, die hinter ihm liegen, sind voller Wendungen, alles andere als geradlinig. Große Reisen haben seine Frau und er gemacht, sind noch vor wenigen Jahren mit dem Rucksack durch Brasilien getourt.

„Kennen wir uns?“ Seit einigen Jahren ist Herr St. an Demenz erkrankt. Er hat keine Erinnerungen mehr an die Reise nach Brasilien und auch nicht an die Mitarbeiterinnen in seiner Praxis. Er weiß nicht, dass er an der Nordsee ist und dass wir noch vor wenigen Stunden zusammen in der „Weststrandbar“ gesessen und ein Pils zum Sonnenuntergang getrunken haben.

„Kennen wir uns?“ Als wir uns zum Frühstück treffen und ich ihn freundlich mit seinem Namen begrüße, erkennt er mich nicht.

Zehn Tage lang waren wir zusammen auf Norderney. Mit seiner Frau gehörte Herr St. zu einer 22köpfigen Gruppe von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen. Musikalische Angebote und Ergotherapie gehörten zum Programm, dazu Ausflüge über die Insel und Nachmittage im Strandkorb. Unsere Idee: Wir können das Leben mit Demenz nicht „gut machen“, aber wir können gute Momente schaffen. Beim „Tanz in den Mai“ rockte Herr St. zur Musik von Tina Turner und Bruce Springsteen. Seine Frau hatte während der Betreuungszeit Gelegenheit für Strandspaziergänge und für Gespräche mit anderen Menschen, deren Partner*in demenziell erkrankt ist.   

In Deutschland leiden 1,5 Millionen Menschen an Demenz, täglich kommen etwa 900 weitere dazu. Die Krankheit zerstört Nervenzellen und Zellverbindungen im Gehirn. Sie beginnt oft mit Gedächtnisstörungen, Konzentrationsproblemen und einem nachlassenden Orientierungssinn. Sie ist meist irreversibel und führt häufig zu völliger Pflegebedürftigkeit und Hilflosigkeit. Sie verändert das ganze Sein des Menschen. Und sie stellt das Leben Millionen Angehöriger vor riesige Herausforderungen. So wie das von Frau St., wenn für sie und ihren Mann die Inselzeit vorbei ist – und ich längst wieder zurück in meinem Alltag bin.

„Kennen wir uns?“ Für mich war es ein Glück, Herrn St. kennengelernt zu haben. Wenn wir abends in der großen Runde zum Tagesausklang zusammenkamen, sang kaum einer so kräftig mit wie er. Auf geheimnisvolle Weise fanden wir beide Trost im Abendlied von Matthias Claudius: „Der Mond ist aufgegangen, die gold‘nen Sternlein prangen am Himmel hell und klar… Verschon‘ uns, Gott, mit Strafen und lass uns ruhig schlafen. Und unsern kranken Nachbarn auch!“

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Martin Treichel, Landesmännerpfarrer der Evangelischen Kirche von Westfalen

Kontakt

Martin Treichel
02304 / 755 370
martin.treichel@kircheundgesellschaft.de
Iserlohner Straße 25
58239 Schwerte

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