Für unsere und eure Freiheit

Für die Freiheit in Europa einzutreten, ist das Ziel, das Menschen aus unterschiedlichen europäischen Ländern und unterschiedlichen christlichen Kirchen miteinander verbindet und sie gemeinsam Wege in schwierigen Zeiten beschreiten lässt. Ein Stück dieses gemeinsamen Weges wurde Ende Oktober in Münster zurückgelegt. Der bekannte orthodoxe ukrainische Religionsphilosoph Constantin Sigov war aus seinem derzeitigen französischen Exil angereist, um über das hohe Gut der Freiheit zu sprechen, das in seiner Heimat auf dem Spiel steht und das er auf seine Weise mit Worten und Debatten, mit Dialogen und Texten und unermüdlichen Reisen quer durch Europa verteidigt.

Die Evangelische Akademie Villigst hat gemeinsam mit dem Ökumenischen Institut der Evangelisch-Theologischen Fakultät unter der Leitung von Professor Dr. Hans-Peter Großhans und dem Ökumenischen Institut der Katholisch-Theologischen Fakultät unter der Leitung von Dr. Regina Elsner diesen Vortrag in Münster ausgerichtet und dazu ein gemischtes Publikum aus den drei Konfessionen und beiden Ländern begrüßt.

©Friederike Barth_Sigov_1

Es war ein eindrucksvoller Abend, an dem neue freundschaftliche Bande zwischen Menschen geknüpft wurden, die von ihrem gemeinsamen christlichen Glauben aus für ein freiheitliches Leben in Frieden eintreten, in dem allein Menschen würdevoll leben können.

Dass der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands zur Scheidung führt, indem sich Menschen nun bekennen müssen, ob sie für Menschenwürde, Freiheit und Frieden – echten Frieden, der diesen Namen verdient – eintreten und darum auf unterschiedliche Weise für einen Sieg der Ukraine und eine Niederlage Russlands kämpfen.

Constantin Sigov tut dies als ein erfahrener Kämpfer gegen Diktatur und Menschenverachtung. Aus seinem Engagement im Euromaidan, der „Revolution der Würde“ 2014, hat er eine Theologie entwickelt, die ausgehend von dem Begriff des homo dignus, des würdebegabten und würdevollen Menschen, auch zu politischen Forderungen kommt: Die Antwort auf die Einsicht, dass Gott dem Menschen eine unverlierbare Würde verliehen hat, sich in ihm Gottes Angesicht spiegelt, ist notwendigerweise ein gesellschaftspolitisches System, in dem diese Würde auch zur Geltung kommen kann. Totalitarismen, wie Sigov sie aus den stalinistischen Zeiten kennt, wie Putin sie mit neuen destruktiven Narrativen zu errichten versucht, sind in ihrem Wesen gegen Gottes Absicht mit dem Menschen gerichtet und führen damit auch zur Korrumpierung des Menschen, der sich ihnen beugt. Sigov illustrierte dies mit Schilderungen aus Orten nahe seinem eigenen Wohnort vor den Toren von Kiew, nur wenig entfernt von Butscha. Wie der unheilvolle Sog des menschenfeindlichen Totalitarismus auch zu einer menschenverachtenden, notorisch und massiv gegen die Genfer Konventionen verstoßenden Kriegsführung führt, enthüllte sich an diesen einzelnen Begebenheiten exemplarisch. Die tiefe Überzeugung Sigovs, dass es immer, in Religion und Gesellschaft, Politik und privatem Leben, um die Orientierung des Handelns an der menschlichen Würde gehen muss, kam hier noch einmal zum Ausdruck: denn erst, wenn die Menschen bei ihrem Namen genannt werden, erst, wenn das Unrecht gesehen wird, erst, wenn auch die Täter Namen erhalten und so bei ihrer Verantwortung behaftet werden, wird der Forderung der Menschenwürde Genüge getan. Denn erst dann erhalten Opfer und Täter ein Gesicht, ein Antlitz, in dem sich ihr Anspruch auf menschenwürdigen Umgang spiegelt und sich die Ungeheuerlichkeit der Verbrechen zeigt, wenn die Täter die Opfer entmenschlichen – und darin zugleich sich selbst.

Ein Rückzug auf abstrakte Positionen, auf vermeintliche Handlungszwänge und -hindernisse, auf Unparteilichkeit oder übergeordnete Ziele ist dann ebensowenig möglich wie die bequeme Flucht in Gleichgültigkeit und eine Haltung des Wegschauens. Vielmehr wird klar, dass der Titel des Vortrags, der angelehnt an den Titel von Sigovs neu erschienenem Buch ist, „Für unsere und eure Freiheit“, zu Recht gewählt wurde. Denn wenn wir von dem Anspruch, den jedes menschliche Antlitz an sein Gegenüber richtet, dass nämlich seine, ihre Würde gewahrt und ein Leben in Freiheit und Frieden ermöglicht wird, absehen – und sei es auch nur, weil zwischen uns und den „Anderen“ eine Grenze liegt –, dann korrumpieren wir uns selbst und verspielen das wichtigste Gut, das wir haben – und schwer genug errungen haben in unserer europäischen Geschichte.

Das ist nämlich die andere Seite der Menschenwürde: dass wir dazu begabt und berufen sind, für sie in Worten und Taten einzutreten, das Gute anzustreben und Verantwortung zu übernehmen. Auf diese Konsequenz kommt es Sigov, der selbst 2014 schon vieles dafür riskiert hat und nun all seine Kraft und Zeit darein gibt, ganz besonders an. Der orthodoxe Religionsphilosoph, der eng verbunden mit katholischen Freundinnen und Freunden schon lange theologische und persönliche Netzwerke geknüpft hat, orientiert sich an dem evangelischen Theologen und Widerstandskämpfer gegen den nationalsozialistischen Totalitarismus, Dietrich Bonhoeffer. Für diesen lief alle Theologie auf die Ethik zu, eine Ethik der ganz persönlichen und unvertretbaren Verantwortung, und jeder Glauben auf die existentielle Beglaubigung im mutigen Handeln für das Gute, für die Menschenwürde.

Hier enden für Sigov alle konfessionellen Differenzen. Der homo dignus, der von Gott geschaffene Mensch, ist es, den evangelische, katholische und orthodoxe Theologie gemeinsam lehren, und dessen Anspruch und Verantwortung alle Christinnen und Christen, alle Menschen guten Willens in diesen dunklen Zeiten zu verwirklichen versuchen. Auf unterschiedlichen Wegen gewiss, auch auf Wegen, die Krieg und Kampf einschließen, weil die Verteidigung der Menschenwürde manchmal alles von Menschen fordern kann, sogar das Leben, sogar die persönliche Integrität, weil Schuldigwerden in Krieg und Diktatur unvermeidlich ist. Auch das gehört zur Erzählung von der menschlichen Würde, vom homo dignus, das wusste bereits Dietrich Bonhoeffer, das erleben die Ukrainerinnen und Ukrainer an der Front, das verschweigt gerade Constantin Sigov nicht.

Es war kein leichter Abend, aber ein intensiver. Und die freundschaftliche, tiefe, weil auf einem gemeinsamen Fundament von Glaubensüberzeugungen und Werten aufruhende Verbindung lässt hoffen – darauf, dass der Zerstörung menschlichen Lebens und menschlicher Würde Einhalt geboten werden kann.

 

DOWNLOAD

©Friederike Barth_Sigov_2

In ökumenischer Verbundenheit: v. l. Prof. Dr. Hans-Peter Großhans (evangelisch), Prof. Dr. Constantin Sigov (orthodox), Dr. Regina Elsner (katholisch)

 

 

 

Kontakt

Dr. Friederike Barth
02304 / 755 321
friederike.barth@kircheundgesellschaft.de
Iserlohner Straße 25
58239 Schwerte