Leben in der Zeitenwende

Ein Jahr der Begleitung, Reflexion und Diskussion des Krieges in der Ukraine
24. Januar 2023

Es war eine Mischung aus Gefühl und nüchterner politischer Logik, das uns Anfang Februar 2022 bewogen hatte, in unserer digitalen Gesprächsreihe die „Situation“, wie wir damals sagten, zwischen Russland, das seit Monaten an der ukrainischen Grenze das Militär aufmarschieren ließ, und der, seit 2014 in Teilen von Russland annektierten Ukraine zum Gegenstand der Diskussion zu machen.

Diese Situation schien uns durchaus brenzlig zu sein, so dass wir überlegten, drei Abende zu diesem Thema zu gestalten. Oft setzten wir das Format sonst punktuell ein für ein Thema, das „dran“ war und ein Blitzlicht bekommen sollte, um Diskussionen anzuregen, das Interesse von Menschen darauf zu lenken, mehr aber auch nicht.

Ukraine Friedenstaube Russland

 

Die Anfänge

So planten wir also drei Veranstaltungen und wollten sowohl die ukrainische, als auch die russische Perspektive besprechen, dazu noch die Einschätzung eines ehemaligen Diplomaten.

Unser zweites Planungstreffen mit konkreten Arbeitsaufträgen im Ergebnis fand am 23. Februar statt.

Am folgenden Tag, nach einem bösen Erwachen und hektischen Vormittag, an dem es auch um kirchliche Reaktionen und die Konzentration und innere Stärkung in Friedensgebeten ging, verständigten wir uns wieder und warfen alle Planungen um. Damit hat erst eigentlich das begonnen, was sich zu einer das ganze Jahr begleitenden, auch weiterhin fortgesetzten Reihe entwickelt hat, mit der wir immer tiefer in den Krieg und seine Hintergründe, seine akuten Problemstellungen und grundsätzlichen Fragen hineingetaucht sind.

 

Villigst fragt nach: Krieg in der Ukraine!

Das ist nun ein eigener Arbeitsbereich geworden, der sich Schritt für Schritt, beinahe wie von selbst, an der Akademie Villigst entwickelt hat - in unserem Bemühen, diese Katastrophe fassbar, verstehbar zu machen und Positionen zu entwickeln, die auch über diesen schlimmen Krieg hinausweisen.

Es fügte sich dabei, dass wir im Zuge unserer Vorarbeit vor Kriegsbeginn bereits Kontakt zu einer ukrainischen Musikerin und Vorsitzenden des Vereins Europa GrenzenLos e.V. aufgenommen hatten, die in ihre alte Heimat bestens vernetzt ist. Unser erster Abend begann also mit zwei Gästen, die aus der Ukraine zugeschaltet waren und eindrucksvolle Plädoyers für Menschenrechte, Freiheit und Frieden hielten, uns aber auch nicht vor der harten Wirklichkeit des Krieges schonten.

 

 

 

Seit diesem ersten Abend am 11. März folgten 2022 noch 9 weitere Gesprächsabende mit prominenten, versierten Gästen, die zu den vielen Themen, die an einem solchen Krieg anlagern, mit unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmernjeweils lebhaft und interessiert mitdiskutierten.

Eindrücke von Korrespondenten, politische Stellungnahmen, völkerrechtlich Einordnungen, Einblicke in die Traumaverarbeitung von Kriegsflüchtlingen, die ökonomische Verflechtung Deutschlands mit der russischen Diktatur, die Situation der orthodoxen Kirchen Russlands und der Ukraine, der Weltkirchenrat und seine Handlungsmöglichkeiten im Gegenüber zu Moskau, die Repressalien für zivilgesellschaftliche Organisationen in Russland und Putins hybride Kriegsführung im Ausland, die ukrainische Kultur und Literatur – wenn wir auf diese Abende zurückschauen, sehen wir in dieser Retrospektive, welch langen Weg wir gegangen sind.

Hier finden Sie die Beiträge zu allen genannten Themen im Überblick.

Es ist ein Leben in der Zeitenwende, die ja gar nicht, wie der Begriff vielleicht suggeriert, ein Wendepunkt ist, ein momenthaftes, kurzes Umwenden und Ändern der Blick- und Laufrichtung, sondern vielmehr ein Weg, ein langer und mühsamer Prozess, der noch nicht zum Abschluss gekommen ist. Nicht nur, weil der Krieg nicht zu Ende ist, sondern weil die Veränderungen so gravierend sind: im Wahrnehmen Osteuropas und besonders der Ukraine selbst, im Denken und Urteilen über die Macht und Ohnmacht von (Handels-)Politik und Diplomatie, im Revidieren alter Gewissheiten über das Ende des Krieges wenigstens auf unserem Kontinent (gewiss auch schon zuvor ein Irrtum, aber in Bezug auf die Dimension und den Kriegsgrund auch wieder nicht) und die bezwingende Vernünftigkeit der Friedensethik, im Gefühl der Sicherheit und im Streben nach Vermehrung des Wohlstandes, schließlich auch im Blick auf die wegen des Klimawandels notwendigen Strategien der Transformation.

 

Leben in der Zeitenwende

Mit dieser Reihe Villigst fragt nach: Krieg in der Ukraine! sind wir diesen Weg mitgegangen und gehen ihn weiter, erarbeiten Stück für Stück im Miteinander der Gespräche und Diskussionen, auch im Unterschied und Gegeneinander der Positionen, neue Einsichten und vollziehen so auch für uns selbst die Zeitenwende mit – mit unseren Möglichkeiten, die sicherlich am Rande des Geschehens liegen, aber gerade von da aus manche kritische Distanz im Urteilen ermöglichen.

Unser Kontinent ist nicht mehr derselbe, unser Land ist nicht mehr dasselbe und auch wir sind nicht mehr dieselben, die wir waren, als wir Anfang Februar beschlossen, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine doch einmal unter die Lupe zu nehmen. Die diskursive Begleitung dieses unseligen Krieges kostet viel Kraft, nicht nur Zeit und Mühen der Recherche und Erkenntnis. Doch ist es uns das wert, schon weil es an vielen Orten und in vielen Kontexten nicht anders ist, etwa an den Schulen oder in der Flüchtlingshilfe.

 

Ausblick

Und so setzen wir fort, weitere Aspekte zu beleuchten. Den gerechten Frieden, die gerechtigkeitspolitischen Folgen des Krieges in Deutschland und Europa und die Herausforderungen für die ökologische Transformation in einer großen online-Tagung am Jahrestag des Kriegsausbruches auf die Ukraine-Tagung am 24./25.02.2023; vieles weitere in unserer Reihe, die nicht an ihr Ende kommt, solange dieser Krieg währt und seine Folgen zeitigt: Die Flüchtlingssituation an der belarussischen Grenze, die Bedeutung kultureller Identität für gerechten Frieden, die strategischen Herausforderungen im Verteidigungskampf, die psychische Situation von Soldaten, das Verhältnis der EU zum möglichen Beitrittskandidaten Ukraine und vieles mehr haben wir im Kopf und in der Planung – und als dasjenige, das wir am meisten herbeisehnen das Thema des Wiederaufbau eines verheerten Landes.

 

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Kerstin Gralher

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Dr. Friederike Barth

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