Villigst fragt nach: Krieg in der Ukraine! "Wir sprechen nun die Sprache des Krieges"

Gespräch mit Prof. Constantin Sigov und Pfr. Taras N. Dyatlik am 11. März 2022

„Die Menschenrechte sind eine Frage von Leben und Tod geworden.“

Am 11. März, dem 16. Tag seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, nach mehr als zwei Wochen Krieg, haben zwei bedeutende ukrainische Intellektuelle, der Religionsphilosoph Constantin Sigov und der Theologe und Pfarrer Taras N. Dyatlik, von der Situation in der Ukraine berichtet – mit Hilfe der in Deutschland lebenden gebürtigen Ukrainerin Alla Vaysband, der ersten Vorsitzenden des Vereins Europa GrenzenLos e.V., die die Übersetzungsarbeit geleistet hat.

Friedenstaube Ukraine Krieg Frieden

 

Einblick in den Kriegsalltag   

Der erste Abend der Themenreihe „Villigst fragt nach: Krieg in der Ukraine!“ wurde intensiv, herausfordernd, ja, beklemmend für die zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Mit großer Offenheit berichteten die beiden Gesprächspartner zunächst von ihrer persönlichen Lage, nahe Kiew und weiter westlich im Land: von den Familienmitgliedern, um die sie sich kümmern, der betagten Mutter, die mit 12 Jahren den Einmarsch der Deutschen in ihrer ukrainischen Heimat erlebte und mehr als 80 Jahre später den der russischen Soldaten. Von den Familienmitgliedern, die nun kämpfen. Von der Ehefrau, die das Land um ihres Mannes willen nicht verlassen will.

    Wie der Krieg das Leben auch jenseits der Frontlinien bestimmt, wurde schlaglichtartig deutlich, als Taras Dyatlik für einige Zeit mit seinem Laptop vom Arbeitszimmer in das fensterlose Bad umziehen musste: der Sirenenalarm zwang ihn zu dieser Schutzmaßnahme. Beeindruckend und erschreckend zugleich war es für die Teilnehmer*innen, wahrzunehmen, mit welcher Ruhe und – man muss es wohl so ausdrücken – Routine Dyatlik von einem Zimmer zum anderen und später wieder zurückwanderte. Dass der Krieg eine Realität ist, die das gewohnte Leben aus den Angeln hebt, die alles bestimmt, auch wenn Menschen nicht in Kampfhandlungen gezogen werden, nicht oder noch nicht von Zerstörung und Engpässen bedroht sind, wurde unübersehbar.

 

 Angriff auf die gesamte freie Welt

    Constantin Sigov hat dies aber auch selbst schon eingangs klar benannt: „Wir sprechen nun die Sprache des Krieges“, so leitete er seinen Bericht ein, d.h. alle Deutungen, alle sprachlichen Aneignungen der Wirklichkeit, alles Denken und Reden vollzieht sich nun in und unter den Bedingungen des Krieges, der alles andere verdrängt und außer Kraft setzt. Das Diskutieren und Einander-Begegnen an Orten des freien geistigen Austausches wird für den ehemals häufigen Gast an europäischen Universitäten und auch an kirchlichen Akademien zu einer ferneren Erinnerung, die – so war auch über die Entfernung und das digitale Medium zu spüren – Trauer und Schmerz über das Verlorene verursacht. Gleichzeitig ist seine eindringliche und klare Botschaft, dass Freiheit und Menschenwürde in der Ukraine zu einer Angelegenheit von Leben und Tod geworden sind!

    In der Ukraine, aber, so Prof. Sigov, keineswegs nur für die Ukraine allein. Denn wenn uns diese fundamentalen Werte verbinden, wenn wir gemeinsam unsere demokratischen Gemeinwesen und ein freies Leben auf Menschenwürde und Menschenrechten aufbauen, dann gilt Putins Angriff der gesamten freien Welt. Darum sorgt der Krieg auf seine Weise auch für Eindeutigkeit, fordert das Streben nach Wahrheit, die nicht mehr in verschiedene Perspektiven aufgelöst werden kann: Es kann keine Unentschiedenheit geben in der Frage, ob Menschenrechte, Völkerrecht gelten oder nicht, ob dieser Krieg ungerecht ist oder nicht, ob die Freiheit es wert ist, zu sterben oder nicht.

    Wenn sich Menschen dieser Frage entziehen, dann erinnere ihn das an Dietrich Bonhoeffer, der in dem Ausweichen vor der Wahrheit und ihrer harten Eindeutigkeit die gefährliche Dummheit erkannte, die nichts mit intellektuellen Fähigkeiten zu tun hat, sondern vielmehr eine Frage der Haltung ist: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit … das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich … Gegen die Dummheit sind wir wehrlos … dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden“ (Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW 8, S. 26). Diese gilt es zu bekämpfen, dafür will uns Constantin Sigov in die Pflicht nehmen und darum nimmt er sich die Zeit, trotz Kriegswirren und Bedrängnissen mit Interessierten einen ganzen Abend im Gespräch zu sein.

Villigst fragt nach Constantin Sigov

Screenshot vom 11.03.22. Villigst fragt nach: Constantin Sigov

„Wir sprechen nun die Sprache des Krieges“, Constantin Sigov
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Wir müssen darüber sprechen

    Das andere Anliegen, das er mit in dieses Gespräch gebracht hat, ist der dringende Wunsch, in Verbindung zu bleiben. Eine sehr belastende Folge des Krieges ist das Abgeschnittenwerden von der Kommunikation, von der Welt. Um dem entgegenzuwirken, findet das Gespräch mit den Menschen an und im (digitalen) Raum der Akademie statt. Wie wichtig dies ist, wurde an diesem Abend deutlich. Auch der Austausch, das Gespräch, das Zuhören und Miteinandersprechen sind in Kriegszeiten keine Selbstverständlichkeiten, aber umso überlebenswichtiger. Um die Verbindung zu halten mit allen Menschen, die mit den Bedrängten solidarisch sind, die vom gleichen Geist der Freiheit und der Menschenrechte getragen sind, die helfen wollen und Anteil nehmen, wird außerdem von Menschen in der Ukraine eine Website programmiert werden, für deren Verbreitung sich auch die Akademie einsetzen wird.

    So können wir hier, im sicheren Mitteleuropa, zur Stärkung beitragen, aber auch zu Zeugen werden für Kriegsverbrechen, deren Schilderung nicht ungehört verhallt, sondern die gehört und dokumentiert werden – denn noch besteht die Hoffnung, dass das Völkerrecht gilt, das Den Haag einmal urteilen wird.

 

Keine Zeit für Trauer

    Doch für einen echten Ausblick über den Krieg hinaus ist für unsere Gesprächspartner nicht die Zeit und wohl auch keine mentale Ressource mehr frei. Der Krieg verlangt zu viele Tätigkeiten im Moment, stellt zu viele tägliche Aufgaben und bindet fast alle Energie. Taras Dyatlik, der als Regionaldirektor von United World Mission viel unterwegs war und sich bei Kriegsausbruch gerade in Bukarest aufhielt, hat eine dieser vielen Aufgaben übernommen, nachdem er – ganz bewusst – zurückgekehrt ist. Seit dem ersten Kriegswochenende hat er sich mit anderen darum gekümmert, Menschen in den da noch sicheren Westteil der Ukraine zu evakuieren. Auch er bestätigt, was den Menschen in West- und Mitteleuropa auffällt: dass die Ukrainerinnen und Ukrainer durch außergewöhnliche Solidarität miteinander verbunden sind und auch daraus ihre große Widerstandskraft ziehen. Jeder steht an seinem oder ihren Platz und tut, was nötig und möglich ist.

    Das allerdings ist dennoch nie genug, auch das wird klar aus den eindrücklichen Erzählungen. Wie belastend das ist, macht Taras Dyatlik ganz deutlich: „Es fühlt sich an wie Verrat, wenn wir Menschen sagen müssen, dass wir sie nicht in Sicherheit bringen können“ – weil schlicht zu wenige Kapazitäten da sind. Und auch, wie wenig es möglich ist, sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen, weil immer weiter gemacht werden muss. Das Weinen muss auf später verschoben werden.

 

Die Bedeutung der Kirchen in der Vergangenheit

    Herr Dyatlik hatte darüber hinaus auch interessante Analysen parat auf die Frage, weshalb sich offenkundig die ukrainische Gesellschaft so anders entwickelt hat als beispielsweise die belarussische, aber natürlich auch die russische. Er sieht für beide Wege auch einen erheblichen Einfluss der Kirchen. In Belarus und Russland habe die (orthodoxe) Kirche den Weg der Konservierung der Strukturen aus der UDSSR gewählt, was auch zur Folge hatte, dass die Ideologien des Bolschewismus und der Stalinismus nie verurteilt worden seien – trotz der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die diesen anzulasten sind. Die russisch-belarussische Welt sei heute exklusivistisch und antiökumenisch eingestellt und habe einen Prozess der Dehumanisierung durchlaufen.

    In der Ukraine dagegen, in der auch viele evangelische Missionare tätig waren und sind, habe die Kirche schon früher, während der beiden Revolutionen (2004 und 2014), eine prophetische Stimme erhoben, sich also gesellschafts- und politikkritisch geäußert und das utopische Potential der Bibel zur Sprache gebracht, wonach Recht und Gerechtigkeit ein Volk erhöhen.

 

Die Kirchen müssen Frieden stiften

    Die Aufgabe der Kirchen, darin sind sich beide Gäste einig, wird langfristig eine besonders wichtige sein. Denn wenn die Völker nicht mehr im Krieg miteinander stehen, gilt es, dem ureigenen Auftrag der Kirchen gerecht zu werden: zu versöhnen, Vertrauen aufzubauen, Frieden zu stiften. Das freilich setzt eines voraus: eine „Deputinisierung“ nicht nur der russisch-orthodoxen Moskauer Kirche, sondern auch der russischen Gesellschaft. Denn auch wenn dieser Krieg, so Prof. Sigov, seine Wurzeln nicht in Religion, so wenig wie in Ethnie oder Sprache hat, sondern in dem imperialen, antidemokratischen Streben Putins, so ist der russische Zweig der orthodoxen Kirche zweifellos auf dem falschen Weg, wenn der völkerrechtswidrige Überfall gewissermaßen sakralisiert wird.

    Dass Krieg niemals „heilig“ sein kann, sondern unvorstellbare Verwerfungen erzeugt, dass die Überzeugung von dem Wert unveräußerlicher Menschenrechte, von Freiheit und Solidarität umgekehrt Menschen zu außergewöhnlichem Tun anspornt und eine nicht für möglich gehaltene Widerstandskraft freisetzt – das wurde an diesem Abend auf bewegende Weise von Constantin Sigov und Taras Dyatlik bezeugt.

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Screenshot vom 11.03.22. Villigst fragt nach: Taras Dyatlik

„Es fühlt sich an wie Verrat, wenn wir Menschen sagen müssen, dass wir sie nicht in Sicherheit bringen können“, Taras Dyatlik
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